Mittwoch, 4. November 2020

Ava Reed- Wenn ich die Augen schließe

 



Verlag: Loewe
Seiten: 320
Erschienen: 08. Oktober 2020
Preis: 14.95 Euro (Ebook: 11.99 Euro)









Die frühen Morgenstunden, eine dunkle Straße, ein voll besetztes und viel zu schnelles Auto und plötzlich ein ohrenbetäubender Knall.
Norah und ihre Freunde sind auf dem Rückweg von einer Party, als das Auto in einem Wildunfall verwickelt wird und von der Straße abkommt. Weil Norah als Einzige nicht angeschnallt war, verletzt sie sich am schwersten und wird in ein künstliches Koma versetzt. Als sie wieder daraus erwacht, sind ihre Eltern und ihre kleine Schwester Lu unendlich dankbar, doch bald schon wundern sie sich auch, als Norah ausgerechnet kurz nach ihrem Aufwachen nach Sam fragt, ihrem Kindheitsfreund, mit dem sie zusammen aufgewachsen ist. Denn eigentlich reden Norah und Sam schon eine ganze Weile nicht mehr miteinander...

Stell dir vor, dir fällt eine Geschichte vor die Füße, die zunächst schnell erzählt zu sein scheint, die du glaubst zu durchschauen und zu wissen, was kommt, doch dann verwandelt sie sich in etwas völlig anderes. 
Ava Reed's neuer Jugendroman "Wenn ich die Augen schließe" beginnt wie vor ihm wohl schon hunderte Jugendromane oder -filme begonnen haben. Ein genervter Teenager, der es nicht erwarten kann von zu Hause zu verschwinden, um mit seinen Freunden auf die Party des Jahres zu gehen. Ein toller Abend, eine durchgefeierte Nacht, der Nachhauseweg, der in einer Katastrophe endet. Schon hier beginnt "Wenn ich die Augen schließe" vom Stereotypischen abzuweichen, denn die Norah, die im Krankenhaus aus dem künstlichen Koma erwacht, ist ein völlig anderer Mensch, als die Norah, die noch vor kurzer Zeit genervt ihre kleine Schwester aus ihrem Zimmer geschmissen hat. Es scheint, als sei ihr gesamtes inneres Wesen durchgeschüttelt worden und die einzelnen Teile liegen verstreut herum. Dass Norah dazu auch noch teilweise an einer Amnesie leidet und auch einzelne Gefühle und Empfindungen überhaupt nicht mehr empfindet oder nicht mehr zuordnen kann, macht das Ganze sicherlich nicht einfacher. Doch sie ist sich sicher, dass Sam ihr würde helfen können, denn schon ihr gesamtes Leben haben die beiden doch irgendwie alles zusammen geschafft. Als Norah aber erfährt, dass Sam und sie schon seit einiger Zeit nicht mehr miteinander reden und schon gar nicht mehr befreundet sind, kann sie das nicht glauben. Sie fragt sich, was für ein Mensch sie vor dem Unfall gewesen und vor allem was zwischen Sam und ihr vorgefallen ist. 
Ava Reed erzählt hier in ihrer gewohnten und intensiven Feinfühligkeit, aber auch mit einer gewissen Raffinesse, denn erst ganz langsam wird die gesamte tragische Weite ihrer Geschichte vor den Leserinnen und Lesern ausgebreitet. Auch ich habe gedacht, dass sich die gesamte Geschichte eigentlich um Norahs Unfall dreht, doch während des Lesens wird deutlich, dass sie eigntlich nur der Auslöser für eine ganze Kette von Ereignissen war, die danach ihren Lauf nahmen. 
"Wenn ich die Augen schließe" ist eine wichtige und berührende Geschichte über Mobbing. Über die Opfer, über die Täter, die in ganz verschiedenen Formen auftreten, über die Hintergründe, über die Folgen und über die Ausmaße, die gerade im Internetzeitalter erschreckende Formen annehmen. Ava Reed lässt in ihrem Roman alle zu Wort kommen, sie beleuchtet dieses wichtige und schwierige Thema von allen Seiten und hätte vielleicht sogar noch ein paar Seiten dran hängen können. Weil wir doch alle irgendwie schon einmal in unserem Leben mit Mobbing in Berührung gekommen sind oder vielleicht sogar immer noch in Berührung kommen. "Wenn ich die Augen schließe" ist somit auch ein Appell, dass es wichtig ist über dieses Thema zu sprechen und es präsent zu halten, um Täter zu identifizieren und um Opfer zu helfen aus ihrer Rolle auszubrechen. Eigentlich um beiden Positionen zu helfen aus ihren Rollen auszubrechen und überhaupt um Hilfe zu bitten. 
Auch wenn "Wenn ich die Augen schließe" einen ernsten und wichtigen Hintergrund hat, war es für mich auch eine Art Wohfühlgeschichte. Weil die Autorin ein Talent hat Schauplätze und einige Nebencharaktere wohlig und sympathisch zu zeichnen, dass man sie irgendwie auch gerne in seinem Leben hätte. Und auch die krasse Wandlung der Hauptfigur vor und nach dem Unfall fand ich sehr gelungen. Erstens, weil ich die Norah davor sowieso nicht gut leiden konnte und zweitens, weil der Mensch zu dem sie nach dem Unfall wurde eigentlich nur eine Fortsetzung des Menschen war, der sie mal gewesen ist und der auch immer noch in ihr steckte. 
Ava Reed's neuer Jugendroman verlässt ziemlich schnell das Stereotypische und wird zu einer tiefer greifenden und wichtigen Geschichte über Mobbing, über die Frage, was für ein Mensch man sein will und was im Leben am meisten zählt. Sehr gelungen und intensiv erzählt.