Dienstag, 22. November 2022

Melanie Raabe - Die Kunst des Ver



Melanie Raabe- Die Kunst des Verschwindens 



Darf ich euch ein Geständnis machen?

Als ich zum ersten Mal die Inhaltsangabe von "Die Kunst des Verschwindens" gelesen habe, fand ich sie so nichtssagend, man wusste nicht so wirklich, um was es in der Geschichte gehen soll, was passieren wird. Hätte ich nicht alle Thriller von Melanie Raabe gefeiert, hätte ich mir das Buch vielleicht sogar gar nicht gekauft. Doch da lag es im Buchladen, ganz unverhofft, ein paar Tage vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin und es musste einfach mit.
Darf ich euch noch ein Geständnis machen?
Nach der letzten gelesenen Seite habe ich ein neues Jahreshighlight und ein neues Lieblingsbuch von Melanie Raabe. Von der ersten Seite war ich verliebt, in genau diese geheimnisvolle Story, die ich zuvor absurderweise als so nichtssagend empfunden habe. Wie schon in ihren Thrillern spielt die Autorin ein meisterhaft komponiertes Spiel mit ihren Leser:innen. In dem Moment, in dem wir glauben ihre Figuren durchschaut zu haben, eröffnet sie uns ein neuen Plottwist, der mich ungläubig in die vorangegangene Zeile zurückspringen ließ, um ganz sicher zu gehen, dass ich auch richtig gelesen habe. Und dann lässt man sich einfach nur fallen, versucht auch nicht mehr die Handlung vorherzusagen, weil man weiß, dass man doch wieder falsch liegen wird, aber das ist auch nicht weiter schlimm. Man will einfach nur dabei sein, bei den beiden Protagonistinnnen Nico und Ellen, die nie ganz zu durchschauen aber wunderbar sympathisch sind, man will sie auf ihren Weg ein Stück begleiten und irgendwie hoffen, dass am Ende alles gut wird.
Am Ende weiß ich immer noch nicht so wirklich, was "Die Kunst des Verschwindens" eigentlich ist, aber nach der Lektüre liebe ich genau das an der Geschichte. Ich liebe, dass sie anders ist, dass sie von allem etwas hat: Spannung, eine wunderbar erzählte besondere Verbindung zwischen den beiden Protagonistinnen, Geheimnisse, Mystik, dass man ihr nie ganz trauen kann, dass man das aber eigentlich will und dass sie so wunderschön erzählt wird, dass ich mir sogar die ein oder andere Träne wegblinzeln musste.
Und was ist das für ein passender Titel? Nicht nur für die Geschichte, sondern für die Leser:innen, denn, wenn ihr Lust habt ein paar Stunden aus den Alltag abzutauchen und komplett zu verschwinden, dann ist "Die Kunst des Verschwindens" genau das Richtige.

Montag, 21. November 2022

Margaret Atwood- Penelope und die zwölf Mägde

 



Penelope und die zwölf Mägde

-Margaret Atwood-




Willkommen zurück in der griechischen Mythologie. Da seht ihr Odysseus, seine Insel Ithaka, da das Schiff, das er wahrscheinlich für seine jahrzehntelange Irrfahrt nach dem Ende des trojanischen Krieges benutzt hat, da immer noch ein paar seekranke Untertanen und die Reste des Gemetzels, das Odysseus, kurz nach dem er sich endlich bequemte nach Hause zu kommen, veranstaltet hat, weil er eben ist, wie er ist und die Belagerung der Freier seines Hofes während seiner langen Abwesenheit vergelten musste. Und dann ist noch sie, sie: Penelope. Der Name ist euch nicht allzu bekannt? Das muss geändert werden, denn heute bekommt Odysseus' Ehefrau ihren längst verdienten und höchst überfälligen großen Auftritt. 

Zurück in die Gegenwart, wir wechseln den Schauplatz und gehen in den Hades, die berüchtigte Unterwelt der griechischen Mythologie. Hier fristet Penelope ihr Dasein, trifft ab und zu alte Bekannte und entschließt sich zu dem, was ihr zu Lebzeiten als Zeitverschwendung erschien, doch jetzt, wo Zeit ausreichend vorhanden ist, als der richtige Augenblick: heute wird die berühmte Geschichte des Odysseus verworfen und ordentlich durchgeschüttelt. Penelope erzählt ihre Geschichte, räumt mit Mythen und zweifelhafter Götterverehrung auf, mit Gerüchten, die sich zahlreich um ihre Person ranken und geht auch ganz zum Anfang, als sie als junges Mädchen von einem Vater, der sie bereits als Kind ertränken wollte, weil sie nicht der begehrte männliche Thronerbe wurde, an den erstbesten Ehemann verschachert wurde, Odysseus, den sie aber doch auf eine verquere Art und Weise lieben lernte. Außerdem erzählt Penelope die Geschichte ihrer zwölf Mägde, völlig verloren gegangen in der griechischen Chronik. Diese Mägde, die Penelope zwar als etwas naiv, aber doch treu ergeben beschreibt, mit denen sie gegen die Belagerer ihres Hofes rebellierte und die ihre wichtigsten Stützen während der langen Abwesenheit ihres Mannes waren, wurden mit den Freiern und Belagerern des Hofes ebenfalls kurz nach Odysseus' Rückkehr zum Tode verurteilt, wegen angeblicher Unzucht.

Auch wenn die Autorin Margaret Atwood die Mägde in ihrer Interpretation dieses Stücks Geschichte im klassischen Gewand auftreten lässt, nämlich singend als Chor, hat sie mit "Penelope und die zwölf Mägde" ein modernes Glanzstück geschaffen. Eine unglaublich unterhaltsame und gelungene Neuinterpretation, erzählt aus weiblicher Sicht ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. 

Am Anfang hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich einlasse und war dann sofort überrascht über die unglaubliche Nahbarkeit von Penelope, ihrer eigentlich fast absurden Kindheit und auch ihr ständiger Konkurrenzkampf mit ihrer schönen aber unglaublich gehässigen Cousine Helena, die bekanntlich mit ihrer Flucht zusammen mit einem jungen Schönling namens Paris, erst den Trojanischen Krieg auslöste, der Odysseus zwang seine Insel Ithaka und seine Frau Penelope zu verlassen. Und natürlich war ich auch überrascht über die Geschichte der zwölf Mägde, die mir bis dahin völlig unbekannt war. Atwoods Blick auf Ithaka, durch Penelope, ist eine Mischung aus Rationalität, eine Geschichte weiblichen Zusammenhalts, sie ist aber auch selbstkritisch, vor allem in den Momenten, in denen Penelope im Hades in sich hineinhorcht und sich eine nicht unerhebliche Mitschuld am Tod der zwölf Mägde gibt. 

Am Ende verlässt Atwood dann mit Penelope zusammen ganz den fiktionalen Bereich und stellt die Frage, wie viel von Odysseus auch heute noch der männliche Teil der Bevölkerung in sich trägt. Die Entmystifizierung eines Helden in ihrer reinsten Form.

"Penelope und die zwölf Mägde" ist also nicht nur unglaublich unterhaltsam, sondern auch lehrreich, es erweitert den eigenen Horizont und lässt einen ganz anders nicht nur auf Odysseus, sondern auch auf andere Heldengeschichten blicken. Außerdem ist Penelope mit ihrem messerscharfen Verstand, Intelligenz, eine Eigenschaft, die bei Frauen in der griechischen Mythologie übrigens auch keinen hohen Stellenwert hat- wie überraschend-, ihrer herrlich saloppen Art und ihrer Nahbarkeit die perfekte Figur, um uns im Hades ihre Sicht der berühmten Geschichte ihres Mannes erzählen zu lassen und diese ist es wert gehört zu werden.