Donnerstag, 15. März 2018

Ein Tag im Winter 1945

Bücher haben die Macht die unterschiedlichsten Emotionen bei ihren Leserinnen und Lesern zu wecken.
Manche Bücher machen führen Glück herbei, das noch tagelang andauert. Andere wecken Trauer bei ihren Lesenden oder schmerzhafte Erinnerungen und damit ist nur eine geringe Bandbreite an Emotionen genannt. 
Dann gibt es diese Bücher, die so intensiv geschrieben sind, dass sie einen noch tagelang beschäftigen. Sie spuken wie ein nicht enden wollender Gedankenkreis in unseren Köpfen herum, so lange, dass unsere Mitmenschen vom Gelesenen erfahren sollten. In den meisten Fällen beginnen solche Gespräche mit dem Satz:
"Ich habe letztens ein Buch gelesen, davon muss ich dir unbedingt erzählen!"
Und enden im besten Fall mit:
"Das Buch muss ich mir unbedingt auch kaufen!"

Es gibt allerdings Tage, in denen Bücher eine noch größere Macht besitzen. 
Eine Macht, die sich komplett entfaltet in dem Moment, wenn die gelesene Geschichte zu etwas Persönlichem wird, das eine geradezu schicksalshafte Bedeutung für den eigenen Lebensweg annimmt. 

Am 30. Januar 1945, um kurz nach 21 Uhr, wurde die 'Wilhelm Gustloff', ein Kreuzfahrtschiff der nationalsozialistischen Organisation 'Kraft durch Freude' (KdF) und ehemaliges Lazarettschiff im zweiten Weltkrieg, von dem russischen U-Boot S-13, unter seinem Kommandanten Marinesko, rund sechzig Kilometer vor der Pommerschen Küste, mit drei Torpedos versenkt. Irrtümlich wurde die 'Wilhelm Gustloff' für ein Kriegsschiff gehalten, das Soldaten über die Ostsee vor der Roten Armee retten sollte. In Wahrheit handelte es sich um ein Flüchtlingsschiff, das hauptsächlich unschuldige Zivilisten an Bord hatte. 
Über die Anzahl der Menschen, die sich zum Zeitpunkt des Untergangs auf der 'Wilhelm Gustloff' befanden, herrschte lange Zeit Unklarheit. 
Heinz Schön, Autor des Buches "SOS Wilhelm Gustloff: Die größte Schiffskatastrophe der Geschichte" kam zu dem Ergebnis, dass sich insgesamt 10582 Menschen an Bord befanden, wobei sich die Zahl der Überlebenden auf 1239 belief. Somit starben beim Untergang insgesamt 9343 Passagiere, sechsmal mehr als auf der 'Titanic'. Nur einige Hundert von ihnen waren Soldaten, hauptsächlich befanden sich unter ihnen Frauen und Kinder. Der Untergang der 'Wilhelm Gustloff' wurde als größte Katastrophe der Schifffahrtsgeschichte bezeichnet. 
Salz für die See, Ruta Sepetys. Königskinder
Verlag, 2016
Als ich das Buch "Salz für die See" von Ruta Sepetys, erschienen im Königskinder Verlag, in die Hände nahm, durch die ersten Seiten blätterte und den Rest der Geschichte gleichzeitig begierig aber auch erschüttert zu Ende las, hatte ich keine Ahnung, auch einem Stück meiner eigenen Geschichte auf diesen Seiten zu begegnen. In "Salz für die See" begleitete ich drei Jugendliche bei ihrer Flucht vor der Roten Armee zur 'Wilhelm Gustloff', das Flüchtlingsschiff, das Rettung versprach. Die Autorin scheute sich nicht davor, den Schrecken, das Elend und das Leid, das die Menschen bei ihren zahlreichen Fluchten ertragen mussten, in ihrem Roman darzustellen. Zahlreiche Menschen starben bereits hier durch Verhungern, Erfrieren oder an Krankheiten. Als sie sich dann auf der völlig überladenen 'Wilhelm Gustloff' in Sicherheit wähnten, begriffen sie ziemlich schnell, dass der Albtraum erst begonnen hat.
Noch lange, nachdem ich die letzte Seite von "Salz für die See" gelesen habe, blieb das Buch, das einen viel zu lange nicht beachteten Teil unserer Geschichte beleuchtete, in meinen Gedanken. Und zwar so intensiv, dass es zu dem bereits erwähnten Bedürfnis kam, meinen Mitmenschen davon zu erzählen. Ich sprach meine Mutter an und erhielt damit die Erkenntnis, dass die Geschichte noch viel mehr war, als ich angenommen hatte. 

Meine Großmutter väterlicherseits, die ihre ersten zwölf Lebensjahre in ihrer
Heimat Danzig in Polen verbracht hat, wurde im Jahre 1945 gezwungen mit ihrer Familie vor der Roten Armee zu fliehen. Mit ihren Eltern und vier Geschwistern startete ihre Flucht im Januar 1945 in Danzig mit dem etwa dreißig Kilometer entfernten Ziel: Gotenhafen. Hier wollte die Familie die 'Wilhelm Gustloff' nehmen, um im Westen vermeintliche Sicherheit zu finden. Zu Fuß machten sie sich im tiefsten Winter auf den Weg. Dort angekommen ragte das riesige Schiff vor ihnen auf. Gotenhafen bat einen unvorstellbar grausamen Anblick. Tausende Menschen versuchten verzweifelt noch im letzten Moment auf die Gustloff zu kommen, die für sie in diesem Augenblick die einzige Rettung bedeutete. Verzweifelte Mütter warfen ihre Babies und Kleinkinder anderen Menschen zu, die sich bereits an Bord befanden, auch dann noch, als das Schiff bereits auslief. Menschen, die von dem Grauen tagelanger Flucht gezeichnet waren, brachen weinend in der Menge zusammen und wurden niedergetrampelt.
Auch die Familie meiner Großmutter, und sie selbst, versuchte auf die Gustloff zu gelangen, doch ohne Erfolg. Immer wieder wurden sie abgedrängt und mussten am Ende hilflos dabei zusehen, wie das Schiff aus dem Hafen auslief und sich in den tiefen Weiten der Ostsee verlor. In diesem Hafen mit noch tausenden Menschen um sich herum, die es ebenfalls nicht mehr auf die Gustloff geschafft hatten, waren die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit in die Gesichter der Menschen eingegraben. Denn sie wussten da noch nicht, welche Katastrophe dem ehemaligen Kreuzfahrtschiff bevorstand. 
Meine Großmutter unmittelbar vor
der Flucht in Danzig.
(Foto: Privatbesitz)
Bei der anschließenden Suche nach einer anderen Fluchtmöglichkeit, starb die jüngste Schwester meiner Großmutter an Hunger und Erfrierungen. Dem Rest der Familie gelang als eine der letzten die Flucht nach Deutschland. 

Eine nicht enden wollende Gänsehaut überkommt mich bei dem Gedanken, dass, wenn meine Großmutter und ihre Familie an diesem Tag im Winter 1945 ihr Ziel erreicht hätten, wenn sie es an Bord der Gustloff geschafft hätten, ich möglicherweise diese Zeilen nicht hätte schreiben können. Sicherlich sind das eine Menge 'hätte', doch es ist wahrscheinlich töricht zu glauben, dass meine Großmutter das Glück gehabt hätte, zu den wenigen Überlebenden des Untergangs der 'Wilhelm Gustloff' zu zählen. So lässt es sich also als eine schicksalshafte Wendung nicht nur für ihr eigenes Leben bezeichnen, dass sie das Schiff nicht erreichen konnte. 

Leider konnte ich meine Großmutter selbst zu ihren persönlichen Geschichte um den Tag der 'Wilhelm Gustloff'-Katastrophe nicht mehr befragen, da sie vor drei Jahren starb.Weil sie diese Geschichte zu Lebtagen aber oft erzählte, erfuhr ich viel von ihren eigenen Kindern: meinem Vater und meiner Tante. Als unmittelbare Zeitzeugin beantwortete mir auch ihre jüngere Schwester einige meiner Fragen. 
Ein Teil der Familie meiner
Großmutter.
(Foto: Privatbesitz)

So entstand ein ungefähres Bild dieses bedeutenden Tages im Winter 1945.
Das Bild eines schrecklichen und sinnlosen Krieges.
Das Bild von einer der größten Schiffskatastrophen der Geschichte.
Das Bild von tausenden, unschuldigen Menschen, getrieben in die Flucht, in den Hunger und in den Tod. 
Dass wir uns daran erinnern, immer und immer wieder, ist wichtiger denn je.

Und das Bild einer persönlich schicksalshaften Fügung. 
In Erinnerung heraufbeschworen, weil manche Geschichten so viel Macht haben, dass sie uns so lange im Kopf bleiben, bis wir den Satz sagen:
"Du, ich habe da letztens ein Buch gelesen, davon muss ich dir unbedingt erzählen!"

Meine Großmutter und meine Tante in Gotenhafen (Ablegestelle der Wilhelm Gustloff)
(Foto: Privatbesitz)


Quellen:
-Bill Niven (Hrsg.): Die „Wilhelm Gustloff“. Geschichte und Erinnerung eines Untergangs. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2011.
-Triumph und Tragödie der Wilhelm Gustloff . Dokumentarfilm von Karl Höffkes und Heinz Schön, Deutschland, 2000.




6 Kommentare:

  1. Hallo liebe Lisa

    Ich habe über Instagram zu dir gefunden und musste natürlich direkt deinen sehr privaten und bewegenden Beitrag lesen.

    Ich hatte Gänsehaut und Tränen in den Augen und kann gut verstehen, dass du dir so viele Gedanken gemacht und vieles hinterfragt hast.

    Liebe Dank fürs Teilen dieser Erfahrungen und alles Liebe
    Livia

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    1. Vielen Dank für deinen Lieben Kommentar und liebe Grüße

      Lisa

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  2. Hallo Lisa,
    was für ein interessanter und bewegender Beitrag!
    Das Buch liegt schon eine Weile hier. ich werde es im Mai gemeinsam mit ein paar anderen lieben Bloggern lesen. Die Autorin kenne ich allerdings schon.
    Liebe Grüße
    Martina
    https://martinasbuchwelten.blogspot.co.at/

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    1. Hallo Martina,

      Vielen Dank für deine Worte und ich wünsche dir eine gute Lektüre von "Salz für die See".

      Liebe Grüße
      Lisa

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  3. Hey Lisa, ich bin gerade am Stöbern auf deinem Blog und auf diesen Bericht gestossen. Denn "Salz für die See" will ich auch bald lesen! Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass es so persönlich wird. Ich hatte gerade Gänsehaut beim Lesen! Schön, dass du so persönliche Dinge mitteilst! Liebe Grüße, Kathrin von www.buchsensibel.de

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    1. Hallo Kathrin,
      danke dir für deine lieben Worte. Ich hoffe, dir gibt "Salz für die See" genauso viel wie mir.
      Liebe Grüße, Lisa

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